Dieser Text von Herrn Jörg Beleites wurde von Uwe Fricke zur Verfügung gestellt.
Jörg Beleites ist pensionierter Lehrer und lebt in Hamburg-Volksdorf. Er ist engagiert als Hamburger Stadtbilderklärer und bietet auf seiner Internetseite eine Reihe von Führungen in Hamburg an.
In einem schulischen Projekt zum Thema „Wandsbeks Geschichte“ am Charlotte-Paulsen-Gymnasium entstand 1995 neben den Schülerbeiträgen ein Artikel von Jörg Beleites selbst zur Industriegeschichte in Wandsbek. Er wählte das Beispiel der Neumann-Reichardt-Werke.
Schokolade aus Wandsbek
Ein Beitrag zur Industriegeschichte des Stadtteils
von
Jörg Beleites
Kaum 400 m voneinander entfernt, gibt es zwei Orte im Hamburger Stadtteil Wandsbek, die mit der industriellen Fertigung und Verarbeitung von Schokolade eng verbunden sind. Zum einen befand sich zwischen Zoll-, Morewood-, Neumann-Reichardt- und von-Bargen-Straße in den Gebäuden des heutigen Gewerbehofes von 1898 bis 1928 die Fabrik der Kakao-Compagnie Theodor Reichardt. Zum anderen werden seit 1949 auf dem ehemaligen Gelände der Actien-Bier-Brauerei Marienthal, das durch die Neumann-Reichardt-Straße, die Efftingestraße, die Straße Am Neumarkt sowie die Bahnstrecke nach Lübeck begrenzt wird, durch die ehemaligen Stockmann-Werke und deren Nachfolger schokoladenhaltige Süßwaren hergestellt.
In diesem Artikel soll erinnert werden an:
Friedrich Neumann-Reichardt
und seine Kakao-Compagnie
1898 wurde die Kakao-Versand-Compagnie Theodor Reichardt von Halle/Saale, wo sie im Oktober 1892 von Friedrich Neumann zusammen mit seinem Schwiegervater Theodor Reichardt gegründet worden war, nach Wandsbek verlegt. Sie erhielt den Namen Kakao-Compagnie Theodor Reichardt . Neumann hatte erkannt, dass der Raum Hamburg der richtige Standort für eine Kakaofabrik darstellte, da Hamburg seinerzeit der bedeutendste Rohkakaomarkt der Welt und der Haupteinfuhrplatz für dieses überseeische Erzeugnis war.
In der Denkschrift anläßlich des 25jährigen Bestehens des Reichardtwerkes in Wandsbek (1917) lesen wir, dass F. Neumann " … auf das große Ziel hinarbeitete, das er sich zur Lebensaufgabe gestellt hatte: den Kakao zu einem Volksgetränk zu machen. ... In Anerkennung seiner großen volkswirtschaftlichen Verdienste und seiner bedeutsamen sozialen Bestrebungen hat ihm die preußische Regierung im Jubiläumsjahr das Recht zur Führung des Familiennamens Neumann-Reichardt verliehen."
Nach den mir vorliegenden Quellen scheint Friedrich Neumann (geboren am 19.1.1858) ein typischer patriachalischer Fabrikdirektor der Gründerzeit gewesen zu sein, der durchaus das Wohl seiner Arbeiterinnenund Arbeiter im Auge hatte, allerdings meistens in Hinblick auf das Wohl der Fabrik.
In dem 1913 erschienenen Sonderabdruck aus dem Kaiserjubiläumswerk „Die deutsche Industrie“ über die Reichardt-Werke werden folgende Wohlfahrtseinrichtungen genannt:
Innerhalb von 18 Jahren entwickelte sich das Werk zu Wandsbeks größtem Betrieb (1899: 75, 1907: 591 und 1911: 868 Mitarbeiter).
Nach dem 1. Weltkrieg wurde es unter der Leitung von Friedrich Neumann-Reichardt zu Deutschlands größtem Kakao- und Schokoladenwerk mit bis zu 4000 Mitarbeitern (1923: 3690 Mitarbeiter).
Doch die allgemeine schlechte wirtschaftliche Lage machte auch der größten Kakao-Fabrik Kontinentaleuropas zu schaffen. In den im Hamburger Staatsarchiv aufbewahrten „Berichten über die Verwaltung und den Stand der Gemeindeangelegenheiten der Stadt Wandsbek“ wird für das Jahr 1925 berichtet: „ ... selbst die Reichardtwerke mussten im Dezember 1925 infolge Absatzmangels ihren Betrieb vorübergehend stillegen und damit 2800 Arbeitnehmer entlassen, von denen 1293 in Wandsbek wohnhaft waren. Bei Wiedereröffnung des Betriebes konnte kaum die Hälfte der bisherigen Belegschaft wieder beschäftigt werden.“
Im Januar 1928 „feierte Generaldirektor Dr. h.c. Friedrich Neumann-Reichardt in ungewöhnlicher Rüstigkeit seinen 70. Geburtstag“, so berichten mit Bild des Jubilars der Hannoversche Kurier und das Hamburger Fremdenblatt. Doch bereits am 14.3.1928 steht in der letzgenannten Zeitung unter der Überschrift „Verkauf der Kakao-Kompagnie ...“, dass die Gesellschaft „an eine Gruppe unter Führung der Dresdner Bank in Hamburg“ verkauft wird. „Dieser Gruppe gehört auch die Firma F. Schicht in Aussig an. ... Die Gruppe wird etwa 75 Prozent des Stammkapitals von 10 Mill. RM erwerben.“
Schicht war ein tschechischer Margarine-Industrieller.
„Nach Abschluß des Vertrages beabsichtigt ... Neumann-Reichardt aus der Geschäftsführung auszuscheiden.“
Der Verkauf hatte unerwartete Folgen: Der Betrieb wurde aus Wandsbek verlagert, die Arbeitslosigkeit stieg in der Stadt daher erheblich an.
Die Schokoladenproduktion hatte damit in Wandsbek vorläufig ihr Ende gefunden. Auch eine am 29.12.1920 unter der Nummer HR B 60 in das Handelsregister des Amtsgerichts Wandsbek eingetragene Kakaohand GmbH, deren Geschäftsführer ebenfalls F. Neumann-Reichardt war, und in deren Gesellschafterliste u.a. Frau Lydia Peterson-Dewiel, eine Tochter von F. Neumann-Reichardt, aufgeführt wird, wird am 30.12.1932 aufgelöst, am 5.4.1934 erfolgte der Löschungseintrag.
Das Gelände und die Gebäude dieses Werks blieben als Einheit erhalten, genutzt wurden und werden sie allerdings von einer Reihe verschiedener Gewerbetreibender.
In einer Liste aus dem Jahre 1937 werden u.a. folgende Produktionsstätten genannt:
Vordergebäude:
Marzipanmasse, Kabelmaschinen, Nähmaschinen-Teilefabrik, Kaltasphalt, Turnschuhfabrik, Dichtungsmittel, Chemische Fabrik, Offsetdruck, Werkzeugfabrik
Ostgebäude:
Holzbearbeitungsfabrik, Lackfabrik, Möbelfabrik
Mittelgebäude:
Maschinenfabrik, Sargfabrik, Bettenfabrik, Coca-Cola-Verkaufsniederlassung, Schlosserwerkstatt, Graphische Maschinen, Städtisches Hallenschwimmbad
Westgebäude:
Spedition, Bohner-Fabrik, Korksteinfabrik, Fruchtimport
Heute (1995) dient der Komplex als Gewerbehof, er bietet Platz für eine Reihe von mittleren und kleinen Betrieben.
Eine gute Übersicht über die derzeitige Nutzung verschafft einem die Liste, die sich am Eingangstor in der Neumann-Reichardt-Straße 29 - 33 befindet.