Dieser Zeitzeugenbericht wurde uns freundlicherweise von Herrn Dr. Rolf Lange zur Verfügung gestellt. Der auch in "Wandsbek informativ" erschienene Zeitzeugenbericht gibt einen guten Einblick in die großbürgerliche Wohnkultur um 1900.
Eine Villa in Marienthal
Von Dr. Erwin Prager
Vorwort von Dr. Rolf Lange
Der nachfolgende dreiteilige Bericht von Erwin Prager über eine noch heute existierende Villa in Marienthal stellt ein zeitgeschichtliches Dokument aus den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts dar. Aufgeschrieben wurde es auf meine Bitte hin von Erwin Prager Anfang der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts, als dieser – damals schon gut achtzigjährig – eines Tages an unserer Haustür geklingelt und berichtet hatte, hier einmal vor 75 Jahren als Kind gewohnt zu haben.
Erwin Prager war der Sohn des 1854 in Stettin geborenen Max Heinrich Theodor Prager. Dieser wurde Seemann, später Kapitän und beging in den damaligen deutschen Kolonien „Heldentaten“, für die ihn der Kaiser auszeichnete und durch die er zu Vermögen kam.
1905 ließ er sich eine zweigeschossige Villa in Marienthal bauen, von der dieser Bericht handelt. 1910 starb Kapitän Prager. Die übrige Familie zog nach Berlin und die zwei Wohnungen im Haus wurden vermietet.
Wenig später – es muss wohl 1911 gewesen sein – kaufte Gustav Stolle, Kapellmeister des deutschen Kaisers, die Villa. Nach seinem Tod erbte seine Tochter Luise Helene Gertrud, verheiratete Stecker, das Haus und bewohnte es bis 1978 mit ihrem Ehemann; eine Wohnung (im Kriege auch das Dachgeschoss) wurde vermietet. 1978 zog das Ehepaar Stecker in einen Seniorenstift am Rhein, und die Familien Lange und Fraider erwarben die Villa gemeinschaftlich.
Manfred Fraider war ebenfalls Kapitän und langjähriges Mitglied der Hamburger Bürgerschaft, hatte große Verdienste bei der Rettung der Hamburger Museumsschiffe „Cap San Diego“ und „Eisbrecher Stettin“.
Heute wird die Marienthaler Villa im Erdgeschoß von der Familie Lange bewohnt, während nach Auszug der Familie Fraider 2005 das Obergeschoß verschiedene Eigentümer hatte.
Anmerkung der Redaktion der Zeitschrift Wandsbek Informativ zu diesem dort erschienenen Artikel
im Spätsommer 2019:
Rolf Lange war nach Seemannsschule und Seefahrt 1959/60, kaufmännischer Lehre und verschiedenen Tätigkeiten ab 1974 Abgeordneter der Bezirksversammlung Wandsbek und auch Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft. Er studierte Politikwissenschaft, wurde Diplom-Politologe und promovierte in Philosophie.
Von 1980 bis 1984 war er Wandsbeker Bezirksamtsleiter und später Innensenator. Mehr als 20 Jahre leitete er danach die HANSA-Baugenossenschaft.
Er ist langjähriges Mitglied des Bürgervereins Wandsbek.
Teil 1
Ich bin nicht ganz sicher, wann es gebaut worden ist. Jedenfalls konnte ich zum Einschulungstermin Ostern 1905 noch nicht eingeschult werden, weil ich erst am 10. Mai dieses Jahres sechs Jahre alt wurde. Ich muss also 1906 zum Ostertermin zur Schule gekommen sein, da war ich also fast sieben Jahre alt.
Es muss aber erheblich früher gewesen sein, als ich zum ersten Mal mit auf die Baustelle genommen wurde. Es war Vorfrühling. Es waren überall Pfützen und der Polier trug mich auf dem Arm ins Haus, das eigentlich noch gar keins war. Ich muss da noch erheblich jünger als zur Einschulung gewesen sein.
Eingezogen sind wir im Sommer. Es war eine kleine Katastrophe. Die Altonaer Wohnung war gekündigt und wir mussten termingemäß ausziehen, aber das Haus war nicht fertig. Wir mussten erst in die obere Wohnung ziehen, weil die untere noch völlig unbewohnbar war. Auch oben war alles erst halbfertig. Es waren noch keine Schlösser an den Türen, die nur mit Mauerhaken zu öffnen waren. Es waren noch keine Geländer an den Treppen und es gab große Schwierigkeiten mit den sanitären Anlagen. An Tapeten wagte noch niemand zu denken. Der Garten vorn und hinten wurde gerade vom Gärtner umgepflügt, aber die Sonne schien immerhin.
Gegen Mittag waren die Möbelleute mit dem Einpacken in Altona fertig und fuhren ab. Wir fuhren hinterher, nachdem wir irgendwo noch etwas gegessen hatten. Unterwegs kamen wir an unserem Möbelwagen vorbei, der vor einer Kneipe hielt.
Wir saßen in unserem neuen Haus, das noch etwas allzu neu war, auf einer umgelegten Leiter. Hier nahm meine Mutter von unserem Nachbarn, Herrn Ludemann, einen prächtigen Blumenstrauß und eine Willkommensrede entgegen, die der Umgebung nicht ganz entsprach. Der Möbelwagen kam mit Einbruch der Dunkelheit. Die Leute, ich meine die Möbelleute, waren sehr fröhlich, im Gegensatz zu meinem Vater, dem es aber nicht gelang, die allgemein gute Stimmung zu stören. Es fehlte ein großer deckenhoher Spiegel mit feierlichen gedrechselten Säulen, wie es sie damals gab. Er ist später von dem Spediteur wieder abgeliefert worden, aber es ist im Dunkeln geblieben, wo der Spiegel sich inzwischen aufgehalten hatte.
Wie das mit dem Schlafen war, weiß ich nicht mehr, habe aber die Zeit mit dem Baugetümmel und dem immerwährenden Geschrei nach Mauerhaken oder weil irgendwo irgendjemand nicht rein- oder rauskonnte, als aufregend und angenehm in Erinnerung.
Schließlich wurde das Haus aber doch fertig, Haus und Garten.
Es war nicht alles, wie es sein sollte. Rohre, die in der Wand liegen sollten, lagen nicht in der Wand, mit einer Isolierschicht war auch etwas nicht in Ordnung. Maurermeister und Architekt waren zur Aussprache geladen. Der Bart meines Vaters knisterte und ich musste zur Marie in die Küche. Von dort versuchte ich dies und jenes mitzukriegen. Kriegte ich auch, denn meines Vaters Stimme war ziemlich laut geworden. Ich verstand allerdings nichts von dem, was ich hörte. Unvergesslich ist mir aber der Augenblick, in dem mein Vater wütend mit der Faust auf den Tisch schlug. Ich war noch in dem Alter, in dem so eine Vatergeste im Sohn ein Gemisch von Furcht und Bewunderung erzeugt. Ich glaube, es hat später noch einen Prozess gegeben. Der hat mir aber lange nicht so imponiert.
Damals war es unser Haus und anders als heute. Der Ton liegt auf „anders“, und Wort und Ton enthalten nicht den Schatten eines Werturteils. Es sah nur anders aus, als Wohnungen heute aussehen. Elektrisches Licht war für Wohnungen kaum verwendbar. Adäquate Elektrizitätswerke gab es noch nicht, obgleich, wenn ich mich recht erinnere, beim neugebauten Hauptbahnhof in Hamburg schon Masten mit gelbrot brennenden Kohle-Brennern leuchteten. Im Wohnzimmer, dem Terrassenzimmer, hatten wir einen Kronleuchter aus Messing. Er musste alle paar Wochen mal geputzt werden, ein Ereignis, das weder zu den Sternstunden meiner Mutter, noch denen des Mädchens gehörte. Gas war also Trumpf. Auch auf dem Kohlenherd in der Küche stand ein vierflammiger Gaskocher, den später unsere damals liebeskranke Marie zu einem Selbstmordversuch entfremdete. Es hat ihr aber nicht geschadet. Sie hat mit Erfolg einen anderen geheiratet und später, als sie in Berlin wohnte, noch jahrelang auf dem nahegelegenen Friedhof das Grab meines Vaters gepflegt. Sie hing sehr an meiner Mutter und hatte ihr, als sie zu sterben beschlossen hatte, in ihrem Mädchenzimmer einen Brief hinterlassen, in dem sie sie bat, sie möge ihr nicht böse sein, aber sie könne nun nicht weiterleben und den Gasverbrauch möge sie ihr vom letzten Lohn abziehen. Nun, da der Arzt sie wieder zum Leben gebracht hatte, hat sie nicht zahlen müssen. Sie ist noch Jahre bei uns gewesen.
Im Erkerzimmer, dem Salon, hing eine alte Bronzekrone, die aber nur mit Wachskerzen leuchtete. Es war, oder besser ist, aus heutiger Sicht archaisch, aber war sehr stimmungsvoll und sie heizte außerdem. Im Salon stand ferner eine mit Seide bezogene barocke Polstergarnitur. Das Sofa stand an der Außenwand mit einem Bild darüber, in der Ecke vor dem Erker der deckenhohe Spiegel, auf dessen Nussbaumholz-Untersatz sehr große und sehr schöne Südsee-Muscheln lagen. In der anderen Außen-wandecke stand auf einem zierlichen Bronzetisch ein etwa vierzig Zentimeter hoher Eros aus Alabaster, spärlich, aber dezent bekleidet, aber immerhin ein Eros. Im Erker stand im Winter der deckenhohe Tannenbaum, unter dessen Zweigen ich am letzten Weihnachten meines Vaters meine erste silberne Taschenuhr fand, über die ich mich irrsinnig freute, obwohl es keine Quarzuhr war. Sie ist sieben Jahre später mit dem Schoner „Wohlfahrt“, auf dem ich als Leichtmatrose fuhr und mit dem wir bei grober See in der Cimbrishamnbucht in Südschweden über die Steine liefen, abgesoffen.
Das Mittelzimmer war meines Vaters Arbeitszimmer. Rechts vom Fenster – von innen gesehen – stand der Schreibtisch, gegenüber der Bücherschrank, an der Wand gegenüber dem Fenster, neben der Tür zum Korridor, ein breites mit grünem Plüsch bezogenes Sofa und davor ein schwerer Mahagonitisch. Damals waren Furniermöbel noch nicht recht in Mode.
Im Wohnzimmer stand links neben der Terrassentür das Klavier, auf dem ich später mit unterdrückter Wut täglich üben musste. Schließlich hat die Wut gesiegt. Jeder, der mich einen guten Klavierspieler nennen würde, oder genannt haben würde, müsste taub gewesen sein. Es ist aber meines Wissens auch nicht vorgekommen.
Gegenüber stand das große Vogelbauer mit „Kocki“, dem Kakadu mit der gelben aufstellbaren Federkrone. Den hatte mein Vater mal aus Australien mitgebracht. Er, mein Vater, nicht der Kakadu, pflegte mit einer langen Pfeife im Zimmer auf und abzugehen und jedes Mal, wenn er am Bauer vorbeikam, warf sich der Vogel auf der Stange nach vorn und biss in eine Gitterstange, wobei er einen scharfen Zischlaut ausstieß. Es war ein Spiel, kein Versuch, Aggressionen abzureagieren.
Sonst gab es da noch die übliche Polstergarnitur mit Ausziehtisch und hochlehnigen Rohr-stühlen zum Essen. Natürlich nicht die Rohrstühle zum Essen, sondern um beim Essen drauf zu sitzen
Bemerkenswert war noch die Terrasse, auf der wir im Sommer nachmittags mit oder ohne Gäste Kaffee tranken und morgens frühstückten.
Teil 2
Sonntags beim morgendlichen Frühstück konnten wir dann immer von Groß-Jüthorn das Militärkonzert hören, ange-nehm gedämpft, so dass das Gespräch nicht gestört wurde. Einer unserer Nachbesitzer hat aus mir unerfindlichen Gründen die von der Terrasse zum Garten führende, wie ich fand, recht hübsche Freitreppe wegnehmen lassen
Bleibt das Schlafzimmer. Das war eben ein Schlafzimmer mit Betten und Kleiderschrank und was sonst noch dazu gehört. Im Kleiderschrank standen die Kavalleriesäbel meines Großvaters, auch eine Zither lag darin, obgleich es bei uns niemanden gab, der darauf spielen konnte oder es auch nur versuchte.
Bei Schilderung des Zimmers meines Vaters habe ich die Waffensammlung vergessen, die eigentlich dem Zimmer seinen exotischen Charakter gab. Über dem Sofa und neben der Flügeltür zum Erkerzimmer waren die Wände mit von Eingeborenen Afrikas oder der Südseeinseln geflochtenen Matten bedeckt, und daran waren aufgehängt: ein ziemlich großes Götzenbild, über das ich Näheres nicht zu sagen weiß, ein Bündel Wurfspeere, mehrere Bogen und ein Köcher mit vergifteten Pfeilen, der mir und auch Besuchern besonders imponierte, dazu eine Menge kleiner Gebrauchsgegenstände und allerlei Zierrat, von dem ich nur noch sagen kann, dass es ihn gab. Dies alles vermachte mein Vater dem Kolonialmuseum in Berlin, neben dem Lehrter Bahnhof, wo es wohl bei einem Großangriff im zweiten Weltkrieg mit dem Museum verbrannt sein wird.
Im Schlafzimmer an der Wand hing noch meines Vaters Gewehr, das er in Afrika mithatte. Es hatte einen sehr langen gezogenen Lauf und einen Hahn mit Abzug und kein Magazin. Im Schreibtisch lag sein schwerer Revolver, ich glaube, es war ein Lefaucheux mit Kipplauf und automatischem Hülsenauswurf. Wir waren also wohl bewehrt.
Der Revolver erinnert mich an ein schmerzliches Ereignis: Es war Silvester und ich durfte aufbleiben. Wir hatten das Haus voller Gäste und um Mitternacht wollte mein Vater mit dem Revolver etwas Munition verschießen. Dass mich meine Mutter daran nicht teilnehmen ließ, erfüllte mich zwar mit Bitterkeit, wenn ich es auch noch einigermaßen verstehen konnte, dass ich aber auch nachher bei Marie in der Küche bleiben musste, weil mein Vater die leergeschossene Waffe auf der Dielengarderobe im Korridor hatte liegen lassen, verletzte meinen Stolz zutiefst. Das psychische Trauma ist, wie man sieht, auch nach drei- oder vier-undsiebzig Jahren noch nicht ganz verheilt.
Meine Mutter machte im Herdfeuer noch die Bolzen für das Messing-Plätteisen glühend, wenn sie bügeln wollte.
Große Wäsche bedeutete damals für sie und das Mädchen gut und gern zwei Arbeitstage. Dabei fällt mir natürlich die Waschküche ein. Sie lag im Keller auf der Gartenseite an der rechten Ecke. Es gab einen großen Kupferkessel, der in einen Zementblock eingelassen war. Er wurde von unten mit Briketts geheizt.
Eins unserer Mädchen, die auf dem Gebiet der, sagen wir „Erotik“, sehr viel reger war als im Haushalt, sprang des Öfteren, wenn dunkle Triebe sie überwältigten, aus ihrem Mädchenzimmerfenster in die Freiheit. Sie war dann am anderen Tag sehr und angenehm müde. Als so ein Morgen einmal mit dem Waschtag zusammenfiel, hatte sie den Ofen pflichtgemäß angesteckt, war aber dann auf einem Hocker in der Kellerecke eingenickt, ehe sie dazu gekommen war, das Wasser einlaufen zu lassen. Als sie wieder aufwachte, vermutlich weil es reichlich warm wurde, war der Kessel rotglühend und nicht mehr weit vom Schmelzpunkt entfernt. Sie kriegte einen furchtbaren Schreck und tat das Nächstliegende, was trotzdem nicht das Richtige war: Sie drehte den Wasserhahn auf. Das Wasser explodierte sozusagen. Sie rannte schreiend nach oben, wo sie schon auf der Treppe mit meiner Mutter zusammenstieß, die beim ersten Knall von ihrem frühen Frühstück aufgesprungen war, um nach unten zu rennen. Auch die Nachbarn waren aufgeschreckt, weil die Hinterwand des Hauses schnell in einen dichten Qualm gehüllt war. Es war ein Wunder, dass weder dem Kessel noch dem Mädchen, noch, last but not least, meiner Mutter etwas passiert war. Meine an sich milde Mutter sagte der Mathilde zwar, was sie von ihr hielt, der Zorn rührte diese auch zu Tränen, aber bekanntlich ist die Liebe stärker als alles andere, und sie blieb, wie sie war, bis sie uns verließ. Sie war auf einem Auge blind, ich meine rein physisch, und wenn man sie fragte, wie das gekommen sei, sagte sie: „Hab ich ma mitn Stopfnadl ingestochn.“ Ich weiß nicht, wie sie immer wieder von außen in das Zimmer zurückgekommen ist, denn das Fenster liegt doch ziemlich hoch. Sie muss Hilfe von außengehabt haben. Naja, soweit Mathilde.
Ich schreite in meinem Bericht von Ofen zu Ofen, nun vom Waschkesselofen zum Badeofen. Damals war ein Badezimmer in einer Wohnung noch keineswegs eine Selbstverständlichkeit. In Altona hatten wir keins gehabt, sondern nur das „Waschservice“, bestehend aus Waschschüssel, Wasserkanne, Seifennapf und Zahnbürstenbehälter, was alles auf der 'Waschtoilette' untergebracht war.
Der Badeofen bestand wieder aus einem, hier zylindrischen, Wasserkessel, der von unten mit Briketts beheizt wurde. Man kann sich ausrechnen, dass es ein abendfüllendes Programm war, wenn da vier Personen hintereinander baden wollten.
Wenn man das Klo erreichen wollte, musste man an der Badewanne vorbeigehen. Es war insofern raffiniert ausge-dacht, als sich Badender und – wie sag ich's? – Klobenutzer nie sehen konnten. Trotzdem wurde es vermieden, beide Institutionen zugleich in Betrieb zu nehmen.
Ich darf am Rande bemerken, dass zu der Zeit an allen öffentlichen für Männer bestimmten Pissoirs Schilder angebracht waren, auf denen der Gehende ermahnt wurde: „Man beliebe vor Verlassen der Anstalt die Kleider zu ordnen!“ So streng waren damals die Sitten.
Im Keller, und zwar im letzten Kellerraum rechts, hatte mein Vater seine Werkstatt. Er war ein handwerklich begabter Mann und hatte alle Sorten von Werkzeug an den Wänden untergebracht. Wenn ich mich recht erinnere, hatte er auch eine Hobelbank, bin aber nicht mehr ganz sicher. Er schnitzte gern und gut. Damals waren Büffets, Vertikos, Kommoden, Bücher- und Kleiderschränke mit gedrechselten Säulen und glatten oder, wenn es teuer sein durfte, geschnitzten Füllungen en vogue. Unsere Möbel hatten alle geschnitzte Füllungen, nicht weil wir so viel Geld hatten, sondern weil er das alles selbstmachte. Wir hatten auch zwei Schiffe, Dreimastbarken, eine mit festgemachten, die andere mit voll stehenden Segeln, in Vitrinen. Bei der letztgenannten waren die Segel in Holz aus dem Vollen geschnitzt und natürlich jeder Block und Gei und Gording absolut fachgerecht. Na ja, es hört sich an, als wolle ich für den alten Herrn noch heute Reklame machen, aber ich bin nun mal dabei, mich zu erinnern
Unsere ersten Mieter in der oberen Wohnung, die anfangs den gleichen Grundriss hatte wie unsere, war der Rektor Fischer mit Frau und zwei Kindern: Klara Fischer war ein Jahr älter als ich, Ludolf ein Jahr jünger. Klara war schon als Kind engagierte Lehrerin und ihr Bruder und ich hatten große Mühe, sie zu anderen Spielen als Schule zu überreden, bei denen sie immer Lehrerin war.
Mein Vater hatte im Hintergarten auf der rechten Seite, vom Hause gesehen, eine grün angestrichene Laube gebaut, mit einem festen Tisch in der Mitte und Bänken ringsherum, nur die Tür ausgespart. Um die Fenster hatte er aus kleinen Quadraten bestehende Ränder gezogen, die mit rotem, grünem, gelbem und blauem Glas ausgefüllt waren. Es hat mich als Kind enorm fasziniert, mir die Außenwelt aus dieser Perspektive zu besehen.
Teil 3
Ja, also die Fischer'sche Wohnung hatte nur statt des Erkers den klitzekleinen Balkon, der da heute noch ist. Die Hinterfront des Hauses war ganz glatt, bis mein Vater zunächst die Veranda aus Holz anbaute, die von der Küche Zugang bekam, und dann den Anbau, als meine Eltern das Gefühl hatten, ich solle nun nicht mehr im elterlichen Schlafzimmer nächtigen. Mein Vater hatte irgendeinen Maurermeister mit dem Bau beauftragt, aber schon als die Mauern einen Meter aus dem Boden waren und die Gesellen zum dritten Mal betrunken zur Arbeit kamen, schmiss er sie, nicht lautstark, aber unmissverständlich raus und beschloss nach der Devise „Alter Seemann kann alles!“ das Ding fertig zu bauen. Bei dem Dach stieß er an seine Grenze. Es regnete durch, und das tut es heute noch
Ein halbes Jahr nach meines Vaters Tod, im Sommer 1910, war meine Mutter mit mir nach Berlin gezogen, weil sie in dem Haus nicht mehr wohnen mochte und sie in Berlin ihre Schwester mit Familie hatte. Die Wohnung in Mariental wurde vermietet und der Ärger mit dem undichten Anbau-dach wird mir immer in Erinnerung bleiben. Die Mieter schimpften brieflich und drohten und meine geängstigte Mutter schüttete immer wieder gutes Geld in das Loch ohne Boden, ein Loch, das niemand finden konnte. Die Fischer-Familie waren die Einzigen, die zufrieden waren, denn sie hatten einen wunderschönen großen Balkon dazu gekriegt, ohne Mieterhöhung.
Fast der ganze Raum des Gartens jenseits des Weges von der Pforte zum Hauseingang bis zum Nachbargrundstück war mit dichten hohen Fliederbüschen aller Schattierungen bewachsen. Nur auf etwa dem halben Weg zum Haus war ein Dreiviertelkreis ausgespart, der wie die Wege mit Kies bestreut und vom Flieder halb zu einer Art Laube überwachsen war. Auch da haben wir manchmal an Sommertagen Kaffee getrunken.
Dahinter, etwas zum Haus verschoben, stand der Flaggenmast. Die Errichtung war ein kleines nachbarschaftliches Fest. Er war als Klappmast gebaut, d.h. die Mastgabel war mit ihrer Betonwurzel fest und tief in der Erde vergraben, auch die sogenannten Achterstagen waren verankert und an der Saling eingeklinkt. Die Mastwurzel war um den oberen Bolzen drehbar. Der Mast lag mit der Saling auf der Erde und wurde mitvereinten Kräften und „Hauruck“ in die Vertikale gebracht, so dass mein Vater den unteren Bolzen einschieben und mit der Schraubenmutter festziehen konnte. Die Vorstagen, die noch lose hingen, wurden an den Ankern befestigt und steifgesetzt. Schließlich wurde die Stenge aufgebracht, ein Manöver, das heute auch Berufsseeleute nur noch selten beherrschen. Als alles fertig war, wurde die Flagge – damals noch schwarzweißrot – geheißt mit Hurra und Schnaps. Am Hurra wurde ich beteiligt, am Schnaps mangels Reife nicht. Trotzdem war der Mast mein ganzer Stolz, denn ich wusste in der weiteren Umgebung nicht um seinesgleichen.
Mir fällt auf, das ich ganz vergessen habe, etwas über das Dachgeschoß zu sagen. Eine Wohnung war das damals noch nicht, und die drei Zimmer, von denen das mittlere nur eine Dachluke statt Fenster hatte, waren mit ausrangierten Möbeln, Bücherkisten und Stapeln von alten Zeitungen und historischer Korrespondenz gefüllt. Es waren darin tausend Sachen, die mich brennend interessierten und ich habe zur Sommerzeit da oben manches Mal stundenlang gesessen und gestöbert. Auch das einsame Klo, das da ganz ohne erkenntlichen Zweck auf dem Trockenboden stand, faszinierte mich und ich habe des Öfteren zweckentfremdend auf dem Deckel gesessen und gelesen. Es kam mir irgendwie märchenhaft vor. Durch eine Luke konnte man mit einer Leiter auf das Flachdach steigen, was wohl auch heute noch so sein wird. Oft bin ich nicht oben gewesen, weil mein Vater die Leiter im Keller aufbewahrte. Ich erinnere mich an ein Mal, wo wir zusammen mit Nachbarn und anderen Besuchern eins der ersten Zeppelin-Luftschiffe vom Dach besehen haben. Es war damals eine Sensation. Heute würde es schon wieder eine sein.
Vom Hintergarten habe ich bisher nur die Laube erwähnt. Vor der Laube – vom Haus aus gesehen – war mir ein vielleicht vier bis sechs Quadratmeter großer eigener Garten zugeteilt, in den ich hineinpflanzen durfte, was ich wollte.
Vor oder hinter der Veranda, wie man will, war ein großes rundes Rosenbeet angelegt, das nur mit niedrigen Rosen verschiedener Farbe bepflanzt war und sehr schön aussah – fand ich wenigstens. Es folgte in der Gartenmitte ein Laubengang aus wildem Wein. Links davon lag der Hühnerstall, der auch ein, diesmal gelungenes, Bauwerk meines Vaters war.
Einmal im Jahr gab es Küken, was natürlich für mich und die Fischer-Kinder eine Sensation war. Es war alles noch alter Stil, sogar der Hahn krähte, wie es damals Sitte war, nach Sonnenaufgang. Laube, Laubengang und Hühnerstall, sowie ein paar Zierbäume trennten die „gärtnerischen Anlagen“ vom Nutzgarten.
Der Hühnerstall erfuhr noch eine Erweiterung durch einen Taubenschlag, nachdem mir unsere Marie ein Taubenpaar zum Geburtstag geschenkt hatte.
In Fortsetzung des Laubenganges standen Obstbäume, an den Gartengittern an beiden Seiten Stachelbeer-, Himbeer- und Johannisbeerbüsche.
Mein Vater hatte in einem Jahr einmal zuviel Kohlrabi gepflanzt, und es gab im folgenden Herbst und Winter für meinen Geschmack zu oft Kohlrabi. Ich versuchte nach Kräften dagegenan zu quengeln, aber es war ja noch eine Zeit der Kindes-Unterdrückung, eine grausame Zeit. Mein Vater sagte kurz: „Der Junge isst, was auf den Tisch kommt!“ Und als ich noch einmal zu opponieren versuchte, setzte er mich mit hartem Griff auf sein rechtes Knie und sagte: „Mach den Mund auf!“ Das hatte ich in gewissem Sinn ja nun vorher auch schon getan, aber jetzt schob er mir einen Löffel mit Kohlrabi hinein, dem er noch etliche folgen ließ.
Der Abschied war schwer. Am Silvesterabend 1909/1910 feierten wir noch mit Gästen in das neue Jahr. Am 2. Januar gegen Mittag starb mein Vater. Der Tannenbaum verschwand. Der Sarg stand im Erkerzimmer, das voller Blumen und Menschen war. Die Flügeltüren waren aufgeschoben. Pastor Bode hielt die Totenrede. Er fasste sich kurz, denn es regnete, und draußen warteten der Leichenwagen und die Blasmusik und die lange Reihe von Pferdedroschken, in deren erste meine Mutter und ich stiegen. Zu Seiten des Leichenwagens gingen je vier Reitendiener mit Dreispitz und Stichdegen an der Seite, wie es damals in Hamburg Sitte war. Hinter den Wagen der lange Zug von Herren mit Zylinderhüten, die sorgsam von Schirmen geschützt wurden, denn sie wurden nur bei Hochzeiten, Begräbnissen und – feierlichen – Feiern aus der Schachtel geholt, dann aber war es Pflicht. Nur die Uniformen blieben ungeschützt. Das Bild hat sich mir eingeprägt, wie der Sarg mit meinem Vater aus dem feierlichen Leichenwagen herausgehoben und in den braungestrichenen Güterwagen geschoben wurde, der ihn nach Berlin bringen sollte. Dort blieb er allein. Der Trauerzug löste sich langsam auf und wir fuhren durch den feinen Regen in das Haus zurück.
Wenig später zogen wir nach Berlin. Die Wohnung wurde vermietet. Die unbeschwerte Kindheit war zu Ende.
Nachtrag zum Bericht „Eine Villa in Marienthal“
Von Dr. Rolf Lange
Wie der Zufall so spielt, ist just diese Klara Fischer später auch Lehrerin geworden und Patentante meiner Schwägerin, der Schwester meiner Frau. Diese Klara Fischer, die nie geheiratet hat, besuchte uns in besagter Villa in Marienthal 1993, also im Alter von 94 Jahren. Sie konnte sich noch gut an ihre Kindheit im Haus und in Marienthal erinnern und war ganz begeistert, dass so vieles im Originalzustand war. Allerdings war ja die ursprüngliche Gasbeleuchtung längst durch Elektrizität abgelöst. Eines im Bericht aber rückte sie zurecht: Der Kapitän Prager war strikt dagegen, dass sein Sohn mit Klara spielen durfte. Sie war schließlich nur eine Lehrerstochter, unter seinem Niveau. Die Kinder taten es heimlich und hatten viel Spaß.
Klara Fischer ist mit fast 100 Jahren gestorben.